„Das Herz von St. Pauli“: Ein Rückblick auf Diskussionen, Dissonanzen und Entscheidungsprozesse
Wenn man heute an Stadionhymnen denkt, kommen vielen sofort große, emotional aufgeladene Lieder in den Sinn, die vor dem Anpfiff eine besondere Stimmung erzeugen sollen: Pathos, Gemeinschaftsgefühl, Gänsehaut. Auch beim FC St. Pauli wurde Anfang der 2000er-Jahre versucht, ein solches Lied zu etablieren. Im Zentrum stand dabei: Das Herz von St. Pauli. Die Geschichte seiner Einführung ist jedoch keine von sofortiger Begeisterung, sondern eine von Skepsis und letztlich einem mühsam errungenen Kompromiss.
Eine Idee aus der Fanszene
Die erste Idee, das zunächst von Hans Albers intonierte Lied als Stadionhymne zu nutzen, kam – wenig überraschend – aus der Fanszene. In der November-Ausgabe 1998 des Fanzines Der Übersteiger wurde eine neue Version von Das Herz von St. Pauli auf dem Sampler St. Pauli ist schuld, dass ich so bin mit begeisterten Worten bedacht: „Hans Albers wäre stolz auf diese Interpretation gewesen. Die neue Stadionhymne der Zukunft ist geboren!“
Doch diese Euphorie wurde nicht überall geteilt. Schon einen Monat später meldete sich das Fanzine Unhaltbar unter dem Titel Der Übersteiger ist schuld, dass wir so singen zu Wort – mit spöttischem Unterton: „Wie allerdings die Idee entstanden ist (…) so einen Hans-Albers-Knödel-Song wie ‚Das Herz von St. Pauli‘ (…) als Stadionhymne anzuempfehlen, bleibt schleierhaft.“
Für einige Fans war das Lied zu altbacken, zu kitschig, zu verstaubt – nicht das, was den FC St. Pauli im Hier und Jetzt ausmacht. Die Verbindung zum Stadtteil wurde zwar anerkannt, doch vielen erschien der Klang eher wie eine Hafenrundfahrt mit Akkordeon aus der Zeit des „Wirtschaftswunders“ und nicht wie eine authentische Fußballhymne für einen linken Fußballverein. Gleichzeitig passte das Lied damit zu den vielen Widersprüchen und Facetten, die St. Pauli ausmachen.
Unzufriedenheit mit YNWA
Im Jahr 2002 wurde die Diskussion um ein neues Stadionlied akut. Zuvor erklang am Millerntor eine Version von You'll Never Walk Alone – eingesungen von den Rubbermaids in Kooperation mit dem Übersteiger-Chor. Doch offenbar war man auf Vereinsseite nicht zufrieden damit. Eine neue Version, eingesungen von Bela B. & The Tikiwolves, wurde eingeführt – ohne breite Absprache mit der Fanszene. Die Premiere dieses Songs wurde kein Gänsehautmoment im Stadion, sondern sorgte für Streit. Viele Fans begleiteten den neuen Song mit lauten Pfiffen; es ging dabei weniger um das Lied an sich als vielmehr um fehlende Diskussionen zwischen Fans und Verein.
Am 1. Oktober 2002 veröffentlichte der Club eine Stellungnahme, um die Hintergründe zu erklären. Doch die Kritik riss nicht ab und mündete schließlich in einer öffentlichen Diskussion über Stadionmusik und Beteiligung.
Der Themenabend: Debatte und Uneinigkeit
Am 18. Oktober 2002 lud der Fanladen zu einem Themenabend ein, bei dem Musik im Stadion und insbesondere die YNWA-Problematik auf den Tisch kamen. Auch Das Herz von St. Pauli wurde als Alternative vorgeschlagen; von einer klaren Zustimmung war jedoch keine Rede: zu nostalgisch, zu kitschig, zu weit weg vom Selbstverständnis eines kritischen, linken, progressiven Vereins.
Der Widerspruch war so deutlich, dass der Song zunächst nicht weiterverfolgt wurde. Am 24. Oktober folgte eine weitere Stellungnahme des Vereins, in der man sich um einen Dialog bemühte und betonte, wie wichtig eine gemeinsame Lösung mit der Fanszene sei.
Entscheidungsfindung in schwieriger Atmosphäre
Schließlich wurde auf einer Mitgliederversammlung am 25. Februar 2003 über das weitere Vorgehen diskutiert. Sven Brux, langjähriger Fanbetreuer und inzwischen beim Verein verantwortlich für die Sicherheit im Stadion, berichtete dort von einem „Fan-Talk über mehrere Stunden“, in dem man sich gemeinsam auf Das Herz von St. Pauli als neues Stadionlied geeinigt habe.
Wirklich einvernehmlich war dieser Kompromiss allerdings nicht. Für viele war es eher das kleinere Übel im Vergleich zur ungeliebten YNWA-Neuversion. Die Einführung von Das Herz von St. Pauli war also alles andere als ein Selbstläufer. Es war auch keineswegs von Anfang an mit der Bedeutung aufgeladen, wie es aus heutiger Sicht erscheinen könnte.
Die Geschichte des Liedes ist damit auch eine Geschichte über die Besonderheiten des FC St. Pauli: Über kritische Fans, über Mitsprache, über Reibung sowie über den Versuch, etwas Emotionales wie Stadionmusik demokratisch zu verhandeln. Das nächste Kapitel in dieser Geschichte erleben wir seit einigen Monaten durch die Recherchen des FCSP-Museums über den Texter Josef Ollig und dessen NS-Vergangenheit. Ausgang der Diskussion? Offen.
Quellen und weitere Einblicke
– Offizielle Stellungnahme des Vereins zu YNWA (1. Oktober 2002)
– Ergebnisse vom Themenabend im Fanladen (18. Oktober 2002)
– Weitere Diskussionen um YNWA (24. Oktober 2002)